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Über die Bedeutung von Löchern

Alles bisher gesagte war zwar interessant, aber ohne tiefere Bedeutung. Topologie wurde wichtig für die gesamte Mathematik, als B. RIEMANN Gebilde im Rahmen der komplexen Analysis einführte, die als Riemannsche Flächen bezeichnet wurden. Solch eine Fläche ist äquivalent zu einer Kugel, zu der diverse Henkel (Stiele, Griffe) hinzugefügt werden (etwa in Analogie dem Henkel einer Kaffeetasse) oder die mit Löchern versehen wird. Die Anzahl g von Henkeln oder Löchern wird das Geschlecht der Fläche genannt.

F. KLEIN entdeckte, daß die projektive Ebene (eine Kugel mit einem diametralen Punkt der Ebene identifiziert wie in dem Standardmodell der elliptischen Geometrie) nicht orientierbar ist, und er erfand eine andere Fläche mit dieser Eigenschaft, die sogenannte Kleinsche Flasche.

Keine von beiden Flächen kann in dem 3-dimensionalen Raum plaziert werden, ohne daß sie sich selbst schneidet, jede kann aber dafür abstrakt definiert werden (d.h. praktisch zusammengeklebt werden) aus den Kanten eines Polygons (Quadrates). Als einfaches Beispiel kann man sich ein Quadrat vorstellen. Klebt man die beiden vertikalen Kanten zusammen, entsteht ein Zylinder. Werden nun obere und untere Kante noch verklebt, so entsteht ein Torus, d.h. der Zylinder geht in einen Torus über. Alle Eigenschaften des Torus können studiert werden mittels des Rezepts für das Zusammenkleben, ohne daß tatsächlich der Prozeß des Verbiegens des Quadrates eine wesentliche Rolle spielt: Es ist völlig hinreichend vorzutäuschen, daß durch das Zusammenkleben übereinanderliegende Punkte tatsächlich als einunddieselben Punkte identifiziert werden. Nun nehmen wir wieder ein Quadrat, kennzeichnen zwei vertikale Kanten mit gleichem Durchlaufsinn, die zwei waagerechte in entgegengesetzter Richtung, verkleben die Kanten und erhalten die Kleinsche Flasche.

Umgekehrt, wenn eine beliebige Fläche gegeben ist, kann man sie aufschneiden längs eines geeigneten Systems von Kurven und dann die Teilflächen abwickeln (ähnlich einer geschälten Apfelsine), um ein Polygon zu erhalten. Um die Fläche wieder herzustellen, muß man sich die Kanten wieder verklebt vorstellen. Durch Studium dieses Zerlegens und nachfolgenden Zusammenklebens gelingt es, den topologischen Typ dieser Flächen vollständig zu klassifizieren. Die orientierbaren Flächen sind Riemann-Kugeln mit g Henkeln.

Die nicht-orientierbaren Flächen sind Kugeln mit g Löchern (g > 1), wobei in jedes ein Möbius-Band geklebt ist. Das ist (im abstrakten Sinne) deshalb möglich, weil die Kante eines Möbius-Bandes eine einzige geschlossene Kurve ist, d.h. im topologischen Sinne ein Kreis. Versucht man diese Konstruktion im 3-dimensionalen Raum durchzuführen, müssen sich die Bänder selbst kreuzen, es entsteht ein Hut-ähnliches Objekt, eine sogenannte Kreuzkappe.

Die gerade beschriebenen Flächen heißen standard-orientierbare und nicht-orientierbare Flächen vom Geschlecht g. Irgendeine geschlossene Fläche ohne Kanten ist topologisch äquivalent zu genau einer anderen.

Nun gibt es den wichtigen Zusammenhang zum Eulerschen Satz über die Anzahl von Ecken, Kanten und Flächen von Körpern, der bereits erwähnt wurde. Für Polyeder ohne Löcher, d.h. für Polyeder, die einer Kugel topologisch äquivalent sind, gilt demnach V-E+F=2. Konstruiert man dagegen einen polyedralen Torus, so findet man die Beziehung V-E+F=0. Zum Beispiel hat ein 3-seitiger Bilderrahmen aus Holz mit dreieckigem Querschnitt die Werte V=9, E=18, F=9. Nun kann man eine beliebige, interessierende Fläche nehmen, ein Polyeder darauf zeichnen und V-E+F berechnen. Faszinierend ist, daß das Resultat nicht davon abhängt, wie das Polyeder gezeichnet wird, es hängt nur vom topologischen Typ der Originalfläche ab.

Die Eulersche Zahl tex2html_wrap_inline340 ist also eine topologische Invariante. Und das Geschlecht einer Fläche ist ebenfalls eine topologische Invariante: Zwei topologisch äquivalente Flächen haben das gleiche Geschlecht. Sie sind entweder orientierbar oder nicht-orientierbar.

In der Tat gibt es einen Zusammenhang zwischen Geschlecht und Euler-Zahl einer Fläche. Im orientierbaren Fall gilt tex2html_wrap_inline342 , für nicht-orientierbare Flächen gilt dagegen tex2html_wrap_inline344 .


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Prof.Dr.M.Froehner
Fri Apr 4 15:14:00 MDT 1997